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aus: Dr. med. Judit Falk:
Der Säugling, seine Eltern und ihr Kinderarzt

Ich selbst war Kinder-Hausärztin im alten Sinne des Wortes….

Ich hatte nie eine Arztpraxis. Ich besuchte die Familien zu Hause, sprach mit den Eltern und unterstütze sie durch Beobachtungen in unterschiedlichen Situationen.

In den meisten Fällen begann diese Begleitung mit der Geburt, manchmal sogar schon während der Schwangerschaft. Beim ersten Zusammentreffen besprachen wir, was wir voneinander erwarteten. Was ich ihnen anbot, war, sie in regelmäßigen Abständen zu besuchen und die allgemeine und gesundheitliche Entwicklung des Kindes zu begleiten, anstatt mich auf Diagnostik und die Behandlung von Krankheiten oder sonstigen Auffälligkeiten zu beschränken….

Bei den ersten Treffen sprachen wir über im Leben der Eltern bevorstehende Veränderungen und über praktische Fragen... In den meisten Fällen sah ich den Säugling an dem Tag zum ersten Mal, an dem er von der Entbindungsstation nach Hause kam - manchmal schon dort.... Von Anfang an wendete ich mich an das Baby, so dass es mein Interesse spüren und auf seine Weise beteiligt sein könnte. Bei dieser ersten Begegnung stellte ich mich ihm als seine Ärztin vor und sagte ihm, dass wir uns fortan öfter sehen würden, dass ich es manchmal untersuchen und immer lange mit seiner Mutter über es sprechen würde....

Im ersten Lebensjahr des Säuglings besuchte ich die Familien regelmäßig einmal die Woche. In den ersten Wochen oft häufiger, manchmal der Bitte der Eltern folgend, manchmal, weil ich ihre Unruhe spürte und manchmal, weil ich selbst beunruhigt war. Im zweiten Jahr fanden die Treffen gewöhnlich seltener statt. Natürlich habe ich die Familie im Krankheitsfall oder bei anderen Schwierigkeiten häufiger besucht....

Ein sehr wichtiges Thema in unseren Gesprächen war die Ernährung des Kindes: das langsame und schrittweise Abstillen und Einführen neuer Nahrungsmittel und Ernährungsformen, das Erstellen eines ausgewogenen, aber einfachen Ernährungsplans, der im Wesentlichen vom Appetit und Geschmack des Kindes bestimmt wurde. Die Entwicklung unterlag einem obersten Ziel, einer „Hauptregel“. Wie auch immer die Mahlzeit eingenommen wird, sie soll für das Kind eine Freude sein. Dies umso mehr, da sie sich vier bis fünf Mal am Tag wiederholt und eine der wichtigsten Begegnungen zwischen Erwachsenem und Kind bedeutet....

Wir sprachen immer sehr ausführlich über die Organisation eines für den Säugling ruhigen und ausgeglichenen Tagesablaufs und über Veränderungen, die seine Entwicklungsschritte notwendig machten...Wir planten mit Rücksicht auf die Geschwister und insbesondere auf den Vater, damit dieser auch am Leben des Kindes Anteil hatte....

Die zweite große Veränderung im Leben des Kindes erfolgte im Alter von drei bis vier Monaten. Von da an verbrachte es die meiste Zeit seines Wachseins in seinem Spielbereich, etwa einem großen „Spielgitter“ oder einem abgeteilten Zimmerbereich....

Gemeinsam überlegten wir, was in seiner Umgebung immer wieder zu verändern war, damit sie der fortschreitenden Entwicklung seiner selbstbestimmten Aktivitäten entsprach....

Selbstverständlich waren diese Kinder auch manchmal krank. Zum Glück gab es nur selten wirklich schwere Krankheiten....

Bis zum ersten Geburtstag waren die meisten Kinder nicht krank....

Zu beginn einer Krankheit besuchte ich das kranke Kind täglich, dann allmählich seltener. Ich blieb mit der Familie telefonisch in Kontakt....

Die regelmäßige Begleitung der Kinder hat mir eine so profunde Kenntnis des Kindes, seiner Eltern und Ihrer Situation ermöglicht, dass ich es mir erlauben konnte, zu entscheiden, wann ich schnell handeln musste und wann ich abwarten und beobachten konnte, was sich entwickeln würde....

Mein Ziel war es, bei den Eltern Vertrauen in die Entwicklung ihres Kindes zu wecken, so dass sie dieses in seinem individuellen Entwicklungsrhythmus erkennen und gewähren lassen konnten. In einer Atmosphäre emotionaler Sicherheit verfügt das Kind über eine Lebenskraft, die es ihm ermöglicht, alle seine Fertigkeiten selbständig zu erwerben....

Unter emotionaler Sicherheit verstehe ich jene Sicherheit, die eine persönliche kontinuierlich Beziehung ermöglicht, voll Zärtlichkeit und Warmherzigkeit, die das Baby mit den wichtigsten Personen seiner Umgebung und vor allem mit seiner Mutter verbindet....

Wenn die Eltern die Effektivität ihres Kindes erkennen, wird ihnen die volle Bedeutung der selbständigen spontanen Tätigkeit bewusst. Das verändert radikal ihren Blick für das Kind und verändert auch ihre Sicht der eigenen Elternschaft. Sie glauben nicht mehr, dass sie, um sich als gute Eltern fühlen zu können, immer in unmittelbarer Nähe sein müssen und sich ununterbrochen um ihr Kind kümmern, es anregen, fördern oder unterrichten müssen. Obwohl die gemeinsam verbrachten Momente für das Kind von größtem Wert sind und die Quelle seiner Freude aktiv zu sein, sind die Zeiten freier und selbstbestimmter Aktivität nicht weniger bedeutsam.