Emmi Pikler Wege der Entfaltung e.V.

1943 - 14.08.2015 Budapest

aus: Éva Kálló
Wie wir den Kindern von ihrer persönlichen Geschichte erzählen

Die ausreichend gute Betreuerin

Aber was kann eine Betreuerin tun, außer dem Kind auf seine Frage: »Wer hat mich geboren?", die Wahrheit zu sagen und damit sein Leben vor seiner Ankunft im Heim mit einer Person in Verbindung zu bringen, die das Kind nie gesehen hat? 

Was sie tun kann, das muss sie bereits getan haben, bevor das Kind sie fragt. Wenn sie ihre Aufgabe erfüllt hat, dann verfügt das Kind, bevor es sich mit den Fragen um seine Geburt zu beschäftigen beginnt, über eine Vergangenheit im Institut; diese Vergangenheit ist voller lebendiger und positiver Erinnerungen, voller oft gehörter Geschichten, auf die es in Zukunft zurückgreifen kann, auch wenn dies schwer ist; das kann vielleicht seine fehlenden Eltern nicht ersetzen, aber seinen Schmerz lindern. Was ist der Inhalt dieser Vergangenheit? Scheinbar belanglose Einzelheiten, wichtige Ereignisse und viel Information darüber, wie das Kind von seinen Betreuerinnen gesehen wurde, als es ganz klein war. Zum Beispiel, dass es, als es in das Institut kam, eine ganz kleine Sommersprosse im Gesicht hatte, die ihm sehr gut stand. Oder dass das Kind so klein war, dass man kaum eine passende Hose finden konnte. Dass man Schwierigkeiten hatte, ihm Essen zu geben, weil es sich in den Armen der Betreuerin andauernd bewegte. Oder dass die Betreuerin es besuchte, als es einmal im Krankenhaus war, und es dort fütterte. Früher, als Säugling, lebte das Kind im Raum III, wo Marie, die heute nicht mehr in Loczy arbeitet, es gepflegt hat.

Natürlich behält das Kind nicht nur schöne Erinnerungen im Gedächtnis, es gibt auch unangenehme und schmerzhafte Ereignisse, z. B.: einmal im Sommer, wurde es im Planschbecken von einer Wespe gestochen; eines Tages starb ein kleiner Vogel, den Eva unter den Büschen begrub, und das Kind war dabei sehr traurig. Auch als seine Betreuerin vom Institut fortging, weinte das Kind. 

Ob sich das Kind wichtige, oder unbedeutende Erinnerungen ins Gedächtnis ruft, ob es von freudigen oder schmerzlichen Erlebnissen erzählt, es sieht sich als wichtigen Menschen, der es wert ist, geliebt zu werden, wenn es rückwärts, in die Vergangenheit, blickt. Das braucht das Kind, wenn der Moment kommt, wo es die Frage stellt: „Warum haben mich meine Eltern verlassen?"

Éva Kálló

Éva Kálló, Budapest 2011
Foto: Ayla Czimmek