Emmi Pikler Wege der Entfaltung e.V.

Ausschnitte aus: Erleben durch die Sinne
Paderborn, 1997, in überarbeiteter Übersetzung von Anna von Cramer Klett und Peggy Zeitler (siehe unten Englische Originalversion )

Oft habe ich im Leben eine Autorität abgelehnt, nur um dafür eine andere gelten zu lassen. Dahinter steckte die Angst vor dem Gedanken, in einer Welt zu leben, in der es nicht irgendwen, mir in etwa ähnlichen gab, der Bescheid wußte. Inzwischen bin ich aber soweit zu glauben, daß es Unsinn ist, von Autoritäten etwas über das Leben erfahren zu wollen. Gerade die von Autoritäten für uns gewobenen Schleier sind es, die unsere Ohren, Augen und Nerven erst durchdringen müssen, wenn unsere Hände die Welt fassen und unsere Herzen sie fühlen sollen. Wir müssen wieder selbst "schmecken" können, dann können wir auch wieder urteilen.

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Ich bezweifle, daß wir jemals natürlich stehen, solange wir nicht die Wachheit und Ganzheit wiedererlangen, die uns als kleinen Kindern zu eigen war, ehe man uns lehrte, was "falsch" und was "richtig" ist. Sicher ist, daß die meisten von uns tunlichst vermeiden, überhaupt zu stehen, und das um so mehr, je älter wir werden. Doch ich bin mir sehr bewußt, wie sich mein Gefühl für das Stehen über die Jahre verändert hat. Dank dieser Arbeit kommt mein Stehen heute, als Sechzigjähriger, dem des Sechsjährigen näher, als vielleicht in all der Zeit dazwischen. ... Ich war kurz geraten. Mutter maß unentwegt meine Größe. Wäre ich groß für mein Alter gewesen, hätte man mich ohne Zweifel auch damit pausenlos traktiert. Allmählich wurde es zu einer regelrechten Begleiterscheinung des Stehens, mich mit anderen zu vergleichen. Weitere denkwürdige Steh-Momente boten die Strafgerichte der Schule und zu Hause. Es hatte wenig Sinn, mich "hocherhobene Hauptes" meinen Anklägern zu stellen, im Gegenteil, viel besser machte es sich, den Kopf hängen zu lassen. Andererseits, wann immer von Erwachsenen auf mein Stehen angesprochen, hieß es, ich solle gerade stehen und ihnen in die Augen schauen – etwas, das ich recht selbstverständlich getan hatte, bis ich lernte, welche Bahn für Aggression die Augen sein können, und wie gefährlich es war, dieser Aggression offen zu begegnen und "unverschämt" zu erscheinen.

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Als Notlösung möchte ich einen semantischen Ausweg vorschlagen: daß nämlich die Begriffe "Körper" und "Geist" möglicherweise für ganz verschiedene Denkkategorien stehen, die eigentlich nicht in Gegensatz zueinander zu bringen sind. So habe ich nicht immer gedacht. Auch ich bin damit aufgewachsen, von "Körperfunktionen" zu sprechen, wenn es um Schweiß oder Stuhlgang ging, nie aber um den "Verstand", und unter "geistige Funktionen" ordnete ich Rechnen und Rechtschreibung ein, nie aber Hockeyspielen oder Tanzen. Jetzt ist mein Körper für mich eine Dimension, in dem Sinn, wie man von einer Wassermasse spricht. Gewiß gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen meinem Körper und einer Masse Wasser, der aber liegt darin, daß mein Körper die Grenzen eines Organismus absteckt – einer Organisation ineinandergreifender Gewebe, die sich nicht von einander trennen lassen, ohne den Sinn ihrer Existenz völlig zu verlieren. Dieser Organismus, der sich optisch, wie auch sonst durch unsere Wahrnehmung als Körper definieren läßt, hat Funktionen: Stoffwechsel, Atmung, Kreislauf etc. und Geist. So betrachtet, könnte der Geist dem Körper ebenso wenig entgegengesetzt werden, wie der Stoffwechsel. Hört der Geist, der unsere Reaktionen aufeinander abstimmt, oder aber der Stoffwechsel, der für unsere Temperatur sorgt, auf zu funktionieren, so bedeutet das unser Ende – außer wir werden wie ein Stück Gewebe in einem Reagenzglas "am Leben erhalten".

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Wir sind tief verstrickt in eine Kultur von Statistiken, Standards und Meßwerten, in der wir uns der Welt nur indirekt, wie durch einen Versandhaus-Katalog nähern. Natürlich ist es praktisch, Kauf und Verkauf kiloweise zu tätigen, oder die Temperatur eines Kranken zu messen. Wir suchen das abstakte Symbol um seiner selbst willen: Baseballzahlen, Persönlichkeitseinstufungen, "body counts". Um mit den Worten Korzybskys, des Begründers der "General Semantics", zusprechen: wir verwechseln die Landkarte mit dem Land.

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... Gewalt beherrscht unser Leben statt Kraft, und Sichgehenlassen statt Nachgeben. Aber gerade der Baum, der sich nicht gehen läßt, der einfach nachgibt, zeigt im Sturm solche Anmut und besitzt die Elastizität, durch die er überlebt.

Charles Brooks

From: Sensory Awareness - The Rediscovery of Experiencing
New York, 1986

During my life, I have often rejected one authority only to accept another. Underneath, I was afraid at the thought of living in a world where there was not Someone, somewhat like myself, who knew. But I have now come to feel that, to know what one is doing with life, it is no use to consult authorities. It is precisely through the veils which authorities have spun for us that our own ears and eyes and nerves must begin to penetrate if our hands are to grasp the world and our hearts to feel it. We must recover our own capacity to taste for ourselves. Then we shall be able to judge also.

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I doubt if we ever stand naturally until we begin to recover the awakeness and wholeness that we had as little children, before we were taught about the "right ways" and the "wrong ways". Certain it is that most of us, most of the time, avoid standing at all, and generally speaking this gets truer as we get older. But I am very aware of changes in my own sense of standing over the years, in which, thanks to this work, my standing at age sixty is closer to what it was at six than perhaps at any age in between. ... I was short. Mother was always measuring my height. Had I been tall for my age, I should no doubt have been constantly reminded of that. Gradually the comparison between myself and others came to be a regular corollary of standing. Furthermore, certain memorable moments of standing were moments of trial by my superiors, in school and at home; it was useless to "stand up" to them and actually more fitting to slouch. On the other hand, whenever these superiors took notice of my standing, it was to tell me to stand up straight and look them in the eye – something I had always done quite naturally until I learned what an avenue of aggression the eyes could be and how dangerous it was to meet that aggression and appear "impertinent".

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As a stop-gap, I am going to suggest a semantic relief for this difficulty: namely, that the terms "body" and "mind" might represent quite different categories of thought which could not properly be put into opposition. I have not always thought so. I, too, grew up speaking of "bodily functions" as referring, for instance, to perspiration or bowel movement, but never to reason or understanding, and classing as "mental functions" arithmetic or spelling, but never hockey or dance. Now, still staying with the English language, I think of my "body" as of a dimension, in the same sense in which one speaks of a body of water. There is certainly a vital difference between my body and a body of water, but it lies in the fact that my body lays out the boundaries of an organism - or organization of interdependent tissues, none of which can be separated from the others without the loss of its whole reason for existence. This organism, visibly and in other perceptual ways definable as a body, has functions: e.g., metabolism, respiration, circulation, et cetera, and mind. Mind, in this light, could no more be contrasted to body than metabolism could. When either the mind, which correlates our reactions, or the metabolism, which produces our temperature, begins to cease functioning, that is the end of us - except to the extent that we can be kept "alive" like tissue in a test tube.

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... We are immersed in a culture of statistics, standards, and measurements, in which we approach the world only indirectly, as through a Sears Roebuck catalogue. It is not just that it is undoubtedly convenient to buy and sell by the pound, or to take an invalid's temperature. We seek the abstact symbol for its own sake: baseball scores, personality-assessment ratings, body counts. In the words of General Sementics (Anm.: dessen Gründer Graf Korzybsky war), we mistake the map for the territory.

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... Force tends to rule our lives rather than strength, and letting go rather than yielding. But it is the tree that has nothing to let go and merely yields that displays such grace in the gale and has the resiliance to survive. 

Charles Brooks und Charlotte Selver