Emmi Pikler Wege der Entfaltung e.V.

... so steht es in der Süddeutsche Zeitung, seien für ein gesundes Leben nötig. Das glaube ich sofort. Jahrelang bin ich täglich gegangen, auch wenn ich nicht weiß, wie viele Schritte es waren. Das Gehen fehlt mir. Zwei Wochen später lese ich schon wieder in einer Zeitung von diesen „täglich 10.000 Schritten“.

Kurz darauf ein frecher Artikel in dem Magazin The New Yorker: „Stepping Out - Living the Fitbit life“ von David Sedaris. Er sei seinem „fitbit“, einem Schrittzähler, verfallen. Von 10.000 Schritten am Tag habe er sich auf 60.000 am Tag gesteigert und sei auf dem Weg zu 65.000 (ca. 40 Kilometer!). Für kaum etwas anderes gebe es Zeit!

Es ist wieder August und wie jedes Jahr stellt sich mir die Frage, wie ich in die Praxis für die morgendliche Stunde um 7.30 Uhr komme. Früher bin ich mit dem Rad durch den Park gefahren, habe die Gänse auf der großen Wiese begrüßt. Dann der Zusammenbruch und die Entscheidung: Es ist aus mit dem Radfahren!

Wie schon einmal an dieser Stelle berichtet, versuchte ich es auch zu Fuß. Aber das hat nicht geklappt. Ich musste kapitulieren nach ein, zwei Wochen und in mein treues Auto steigen.

Ich weiß nicht, ob ich mich allein wegen des quasi versprochenen gesunden Lebens auf 10.000 Schritte eingelassen hätte. Aber die absurde Vorstellung von 60.000 bis 65.000 Schritten am Tag tickled my fancy.

Los geht es! Beim ersten Schritt auf dem Gehweg vor dem Haus fange ich an zu zählen. Bis zum Ende meiner Straße bin ich schon bei über 200 – und bekomme die ersten Zweifel. Ich habe schon Erfahrung mit dem Schritte-zählen beim Spazierengehen. Ich habe versucht, die nicht enden wollenden Gedanken durch Schrittezählen auszuschalten. Ich weiß um die Schwierigkeit, beim Zählen nicht durcheinander zu kommen. Und da es jetzt um das Ergebnis geht, will ich sichergehen, dass ich mich nicht verzähle.

Einen „fitbit“ habe ich nicht, dafür aber in der Hosentasche ein Smartphone. Also mache ich mir ruhig eine Notiz: „Haustür - Ecke 240“ und fange wieder bei eins an.

Ich bin überraschend konzentriert beim Zählen. Hat das mit dem Ziel zu tun?  Ich schweife vom Zählen nicht ab. Trotzdem traue ich mir selber nicht und möchte Sicherheit. Ich setzte meine Finger ein: Bei 100 Schritten strecke ich einen  Finger der linken Hand  aus. Das gleiche mit den Fingern der rechten Hand bei 500 Schritten. Bei 2999 gelange ich an die Grenzen meiner 10 Finger. Also noch eine Notiz im Smartphone und wieder bei null anfangen!

Auf halbem Wege wachen, wie immer, die Sinne auf. Trotz Zählen, Zahlen und Finger schaue ich hoch. Was für schöne Bäume über mir. Und der Himmel erst, wie er zwischen den Bäumen durchblickt. Ich schaue nach links, zum Fluss und zum Ufer gegenüber. Die kühle Brise auf der Haut. – Zu Hause angekommen sind es 6.255 Schritte.

Dieser erste Gang ist, wie sich herausstellt, ein Probegang gewesen: Wie bewältige ich das Zählen über eine längere Strecke, so dass ich am Ende noch weiß, wie viele Schritte es gewesen sind?

Von da an beginne ich mit dem Zählen, sowie ich aus dem Haus gehe, egal wohin, egal wie kurz die Entfernung: 160 Schritte zum Briefkasten, 320 hin und zurück; um die 300 one way zur Bank an der Ecke, 320 zum Supermarkt an der anderen Ecke.

Und jetzt die größere Strecken: verschiedene Ziele in der Stadt oder in Schwabing.

Erste Erkenntnis: Wo auch immer ich hinlaufe, ich bringe es auf höchstens 6.000 bis 7.000 Schritte, hin und zurück. Ich lese, dass man das Ziel der eigenen Kondition anpassen soll. Nun, der Kondition und dem Alter entsprechend finde ich, dass ich mit 6.000 bis 7.000 zufrieden sein kann.

Zweite Erkenntnis: Mit zunehmender Routine werde ich anfällig für Ablenkungen. Alles Mögliche kommt mir in den Sinn. Ich muss anhalten. Das geht so nicht! Bei welcher Zahl war ich? Weiter gehen und aufpassen! Lass dich nicht ablenken!

Die Einfälle sind nicht zu stoppen, aber sie lenken mich nicht immer vom Zählen ab. Wie funktioniert das? Sie tauchen formlos auf, irgendwo im Hintergrund schwebend – keine Begriffe, Bilder oder ähnliches. Solange ich die Einfälle ohne Form bestehen lassen kann, stören sie beim Zählen nicht. Sowie ich aber anfange, sie in Worte zu fassen, bin ich draußen. Ich bin auf einer Wippe: die Zahlen auf dem einen Ende, die Worte auf dem anderen. Lass die Worte nicht so laut und schwer werden, dass die Wippe kippt! – Keep counting!

Schwieriger wird es bei - scheinbar - unlösbaren Problemen: Warum geht auch das neu ausgetauschte Telefon nicht? Darauf gehen wir jetzt nicht ein!

Wie viele verschiedene Sachen kann ich eigentlich gleichzeitig machen? Gehen, Schritte zählen, die Umgebung wahrnehmen, mir alles Mögliche einfallen lassen. Nicht schlecht! Aber von selbst geht das nicht. Es ist anspruchsvoll. Es verlangt Disziplin.

Hiermit teile ich mit, dass es in der Frühe 6.048 Schritte von zu Hause bis nach Schwabing sind. Wenn ich den ganzen Weg gehen würde, kämen noch 700 bis 800 Schritte dazu, die ich mit dem Bus fahre. Auf 9.155 Schritte komme ich, wenn ich den noch schöneren Weg über den See im Park nach Hause nehme.

Peggy Zeitler August 2014

Pikler

Lula, 8 Jahre, 2012