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... von Susan Cain "The Power of Introverts" bin ich durch einen Artikel in dem US-Magazin The New Yorker über die sogenannten TED lectures gestoßen (18-minütige Reden im Internet, die unter "TED" gegoogelt werden können).

Die Rede beginnt so: "When I was nine years old I went off to summer camp for the first time, and my mother packed me a suitcase full of books"¹. Ein Sommerlager hatte sie sich mehr oder weniger wie zu Hause vorgestellt, wo die Hauptbeschäftigung der Familie Lesen war. Nur würde es besser sein als zu Hause, dachte sie: "I had a vision of 10 girls sitting in a cabin cozily reading books in their matching night gowns"². An dieser Stelle lachen die Zuhörer, und auch ich habe gelacht, wie wohl jeder, der schon einmal in einem Sommerlager gewesen ist.

So vergnüglich diese Rede ist, dreht sie sich doch um ein ernstes Thema. Sie ist vor allem eine Verteidigung des Introvertiert-Seins; und ich frage mich, wie es dazu kommt, dass wir das Introvertiert-Sein verteidigen müssen.

Susan Cain erzählt weiter, wie sie, im Sommerlager angekommen, zum ersten Mal ein Buch aus ihrem Koffer holt und das coolste Mädchen der Gruppe zu ihr sagt, "Warum bist du so 'mellow'?"³.

Als sie es wieder probiert, kommt die Gruppenleiterin mit besorgter Miene zu ihr, verweist auf die Bedeutung des 'camp spirit'4 und meint, es müssten alle gemeinsam daran arbeiten, 'outgoing' zu sein.

Was für eine wunderbare Geschichte! Outgoing-sein, "Aus-sich-heraus-Gehen", ist das neue Allheilmittel.

Zugegeben: "outgoing" Menschen sind gewöhnlich unterhaltsam und man hält sich gerne in ihrer Gesellschaft auf. Aber sind sie deswegen bessere Menschen?

Was mich besonders stört, ist die implizite Ablehnung: Bücher lesen ist schlecht! Bücher lesen ist nicht "outgoing"! Bücher lesen ist gegen den Geist der Gemeinschaft! - Das Lesen von Büchern steht dabei stellvertretend für alles Introvertierte. Man gewinnt zunehmend den Eindruck, dass eine neue Wissenschaft im Entstehen begriffen ist, welche das Introvertiertsein von vornherein als Sonderlichkeit begreift, zu analysieren versucht und Maßnahmen erfindet, mit denen sie den Introvertierten zu einem "outgoing" Menschen - einem Extrovertierten - machen will.

Laut Marcel Proust ist Lesen "a miracle of communication in the midst of solitude"5, sagt uns Susan Cain.

Zu den wesentlichen Eigenschaften des Introvertierten gehört die Selbstgenügsamkeit, also die Fähigkeit, für sich zu sein und sich alleine zu beschäftigen. Und mehr noch: Die Intros - wie sie jetzt genannt werden - fühlen sich auch noch wohl dabei! Ob in der Schule, im Beruf, zuhause oder in der Freizeit, allein sein zu können ist eine wesentliche Voraussetzung für geduldiges und ausdauerndes, für zielgerichtetes und schöpferisches Tun.

Doch anstatt diese Fähigkeit entsprechend hoch zu schätzen, gelten jetzt "die Gruppe" und "das Team" als höchstes Ideal. Wer gerne allein ist, dem wird sogleich unterstellt, dass er nicht mit anderen zusammen sein kann. Alleine und selbstständig arbeiten wird gleichgesetzt mit der Unfähigkeit sich in die Teamarbeit einzufügen. Dementsprechend ist vielerorts im Berufsleben auch schon ein eigener, individueller Platz zum Arbeiten, der nur einem Menschen zur Verfügung steht, überholt.

Dabei sind es gerade die Menschen, die zu eigenständigem und selbstständigem Handeln fähig und dabei womöglich auch noch soziale Außenseiter sind, die in der Geschichte der Menschheit wesentliche Beiträge zur Wissenschaft und zur Kunst, zur Malerei, Musik, Literatur und Philosophie etc. leisten und geleistet haben. Und nur als "Nerds" genießen diese Alleingänger, die nicht jeden Samstagabend zu einer Party eingeladen werden und nicht zu einer Clique gehören, neuerdings wieder eine gewisse gesellschaftliche Akzeptanz.

Wie dem auch sei: Zu meinem Entsetzen geht es inzwischen auch in der Schule nicht mehr darum, wie sozial sich die Kinder verhalten, wie hilfsbereit oder wie aggressiv sie sind. Stattdessen ist es wichtig, ob sie einen Freund oder eine Freundin haben oder wie oft und wie lange sie mit anderen Kindern beschäftigt sind. Es scheint jetzt ein unsichtbares Maß zu geben, wonach erfasst wird, ob ein Kind genug Zeit "mit anderen" verbringt. Und danach wird es bewertet!

Das geht so weit, dass es passieren kann, dass in der Schule das Lesen - wieder das Lesen - als a-soziales Verhalten angesehen wird. Dort, wo man eigentlich erwarten würde, dass ein lesendes Kind für die Eltern eine Freude und für den Pädagogen ein Erfolg ist, werden diejenigen Jungen und Mädchen, die auffällig viel und gerne lesen, als unausgeglichen - als "zu wenig mit anderen" - hingestellt. Und dies nicht genug: Selbst in Kindergärten und Krippen ist das Prinzip "mit anderen" schon, populär-wissenschaftlich aufbereitet, am Werk.

Was maßen wir uns an, wenn wir glauben, bestimmen und urteilen zu können über das Bedürfnis eines anderen Menschen, für sich alleine oder aber zusammen mit anderen zu sein? Wer außer Dir oder mir selbst kann wissen, ob und wie viel Zusammensein mit anderen Dir oder mir gut tut? Und gehört nicht zur Aufgabe des Pädagogen vor allem dies: dass er den ihm anvertrauten Menschen sieht und ihn entsprechend dessen Persönlichkeit auf dem eigenen Weg zur Entfaltung begleitet, anstatt ihn nach seinen eigenen Vorstellungen zu etwas zu formen, was dem anderen wesensfremd ist?

Vor einigen Jahren habe ich an anderer Stelle Caspar David Friedrich zitiert. Hier tue ich es nun wieder:

Jedem offenbart sich der Geist der Natur anders;
Darum darf auch keiner den anderen seine Lehren
und Regeln als untrügliches Gesetz aufbürden.
Keiner ist Maßstab für alle,
jeder nur Maßstab für sich selbst.

Peggy Zeitler, Juli 2012

1 "Als ich 9 Jahre alt war, fuhr ich zum ersten Mal in ein Sommerlager, und meine Mutter packte mir einen Koffer voller Bücher."
2 "Ich stellte mir 10 Mädchen vor, die alle gemütlich in einer Hütte saßen und Bücher lasen, alle in passenden Nachthemden."
3 "Gereift", "sanft", hier mit negativer Nuance im Sinne von traurig und distanziert.
4 "Lagergeist"
5 "... ein Wunder der Mitteilsamkeit mitten im Alleinsein"