Emmi Pikler Wege der Entfaltung e.V.

Meine Zeit im Kindergarten begann im Mai 1993. Damals war der Kindergarten noch in Sonnenhausen. Im Sommer des darauf folgenden Jahres bezogen der Kindergarten und die in der Zwischenzeit gegründete Schule ein gemeinsames Gelände in Niederseeon. Ein größeres Haus bot der Grundschule ihre Räumlichkeiten, ein kleineres dem Kindergarten. Über die Jahre haben wir durch viele Versuche und Umbauten die Innenräume gestaltet, ein Prozeß, der letztlich nie abgeschlossen sein wird. Während der ganzen Zeit habe ich am Aufbau des Kindergartens mitgewirkt.

Es entstand nach und nach eine spürbare Struktur: Raum, Zeit, Materie und die Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen. Darin braucht es viele kleine und größere Änderungen und Maßnahmen, um flexibel und unmittelbar auf die Bedürfnisse und Erfordernisse der Kinder zu reagieren. Und es braucht ständig einen Blick dafür, was passiert, ein Gefühl wohin es gehen könnte, und, ohne die Entwicklung kanalisieren zu wollen, so zu begleiten, daß die Kinder ihr Interesse möglichst selbständig und kompetenzerweiternd entfalten können.

Die Welt der Kinder, der Raum, da, wo sie sich aufhalten, gestaltet sich andauernd, im Großen wie im Kleinen. Mit einer Darstellung aus der jüngeren Geschichte möchte ich einen Einblick in den ‚Kindergartendialog‘ ermöglichen.

Sebastian, seit Jahren schon vielfältigst mit dem Herstellen von Fliegern mit allen erdenklichen Materialien beschäftigt, steckte irgendwann in den ersten Wochen dieses Jahres einige Versandtaschenklammern zu einem Hubschrauber zusammen. Zu solcher Gestaltung waren sie noch nie benutzt worden. Damit dieses Gebilde nicht gleich wieder auseinanderfiel, umwickelte er es mit Gummibändern. Mich beschäftigten daran gleich zwei Aspekte. Einmal, ob sich nicht noch weitere dünne Metalle und feine Bleche auftreiben ließen und wie sie beschaffen sein müßten, zum anderen die Frage, ob es nicht eine passendere Methode gibt, um Metalle zu verbinden, als Gummibänder.

Noch am gleichen Nachmittag versuchte ich Bleche zu besorgen. Kein einziger Spielwarenladen, kein Handwerkerladen konnte mir etwas derartiges anbieten. Bei einem Schmied bekam ich schließlich ein ziemlich dickes, ölverschmiertes, halbquadratmetergroßes Blech, das so gar nicht meinen Ausgangsvorstellungen entsprach. Ich hatte eher an fertige Metallstreifen gedacht, wie sie etwa für Schnellhefter verwendet werden. Nun stand ich mit dem Blech da, das nicht nur ölverschmiert, sondern auch ausgesprochen scharfkantig war. Aus der Hausmeisterwerkstatt lieh ich mir Metallfeilen und einen kleinen Tischschraubstock aus. Mit der Eisenschere schnitt ich das Blech in Streifen und setzte mich damit am nächsten Morgen im Kindergarten an einen Tisch. Sofort wollten einige Buben Metallfeilen ausprobieren. Für den nächsten Tag hatte ich zwei weitere Tischschraubstöcke organisiert und auch weitere Metallfeilen. Nun saßen schon fünf Buben am Tisch; hämmerten, bogen und feilten an den Blechstücken. Zudem hatte ich meinen Lötkolben mitgebracht und die ersten bizarren Gebilde entstanden.

Mich beschäftigte weiter die Frage, ob dies tatsächlich ein ausgesprochenes Bubenprojekt sein mußte, oder was auch Mädchen daran interessieren könnte. „Schmuck!“ - Ich besorgte verschiedene Silberdrähte und sofort stiegen auch die Mädchen in die Fertigung ein. Schmuck war aber nicht allein den Mädchen vorbehalten, auch viele Jungen bogen und löteten Ringe.

Die handwerkliche Ausstattung wuchs: verschiedene Zangen, unterschiedliche Feilen, weitere Tischschraubstöcke und Lötkolben, eine Ständerbohrmaschine...

An einem Tag wurde eifrig gelötet und gefeilt. Mir kam die Idee, daß ich mit dem dickeren Draht ein Klingeldrahtspiel bauen könnte; so ein Spiel, bei dem man mit einer größeren Öse versuchen muß einem gewundenen Draht zu folgen ohne ihn zu berühren. Dazu brauchte es eine Stromquelle, Kabel und Lampe oder Piepser, um beim Berühren der Öse mit dem Draht ein Signal zu erzeugen. Ich besorgte diese Teile und damit hielt auch die Elektrik und Elektronik Einzug im Kindergarten. Denn was so unschuldig dem Klingeldrahtspiel dienen sollte, wurde bald für alles mögliche andere mißbraucht. Es folgten Schalter, kleine Elektromotoren und viele verschiedene elektronische Bauteile.

Erste Schaltungen entstanden und das Interesse der Kinder bedingte die Erweiterung des Repertoires. Akkumulatoren wurden beschafft, dazu natürlich ein Ladegerät, ein Universal-Meßgerät, und inwischen auch ein robustes regelbares und kurzschlußfestes Netzgerät.

Nach und nach ergaben sich immer weitere Anwendungen und Kombinationen aus all den Elementen. Besonders viel Aufmerksamkeit wurde darauf verwandt, was alles man an einem Motor befestigen könnte, und wie es wohl aussieht, wenn es sich dreht. Unter anderem entstand so auch aus einem Eisstiel ein Propeller: in der Mitte ein Loch gebohrt und dem Zahnkranz des Motors entsprechend nachgefeilt und die Seitenteile zu Rotorblättern abgeflacht. Um nicht in die Flugbahn des Propellers zu geraten, spannten die Kinder den Motor in einen Schraubstock, den sie an einem Hocker befestigten und auf einen Tisch stellten. Dann fertigten sie Verlängerungskabel und brachten sich unter oder neben dem Tisch auf dem Boden in Sicherheit. Eine Schwierigkeit ergab sich dadurch, daß der Auftrieb des Propellers nicht ausreichte, um sich eigenständig vom Motor zu lösen. Dazu fanden sich zwei Lösungswege: einmal ein Schaschlikspieß, der den sich drehenden Propeller vom Motor abdrückte, oder ein fester Pustestoß von unten gegen den Propeller.

Für die Verbindungen von Kabel und Bauteilen probierten wir zunächst Ministecker und Minikupplungen aus, wie sie im Modelleisenbahnbau verwendet werden. Die Handhabung dieser kleinen Bauelemente erwies sich aber schnell als Überforderung. Die wirklich winzigkleinen Schrauben fielen beim Einschrauben der Kabel dauernd heraus, die Isolierungshülsen verrutschten und der gesamte Vorgang von Festhalten des Steckers, Schrauben und Plazieren des Kabels war meistens eher eine frustrierende Angelegenheit. Daran konnte auch der Versuch die Stecker im Schraubstock festzuzwingen, um sie nicht halten zu müssen nichts ändern. Schließlich fanden sich fertig konfektionierte Kabel mit Krokodilklemmen an beiden Seiten, die sofortigem Experimentieren die Türe öffneten, ohne sich vorher langwierig mit den Verbindungen plagen zu müssen.

Die neuen Möglichkeiten im Kindergarten sprachen sich bald herum, so daß sich bald einige Schulkinder, vorwiegend Geschwister von Kindergartenkindern, einfanden. (Es können am Tag bis zu zwei Kinder zu Besuch kommen.) Deren Besuche habe ich stets als fruchtbar erlebt. Einmal haben mich die Umsicht und die Klarheit der Größeren mit den Materialien aber auch mit den ‚Kleinen‘ beeindruckt, weiter tragen Schulkinder immer wieder wertvolle Impulse in den Kindergarten. – Eine Lötstation hat inzwischen auch in der Schule Einzug gehalten.

All diese neuen Dinge brauchten aber auch einen Platz. Zunächst wurde eine Ablage auf dem Regal mit den Handarbeitssachen geschaffen. Mit der wachsenden Ausstattung wurde das gesamte Handarbeitsangebot immer tiefer im Regal verdrängt und auch entsprechend nicht mehr benutzt. Das war also keine Dauerlösung. Die Technik brauchte einen eigenen Platz. Dafür opferten wir unseren Hospitationsplatz. Ein Kindergartengroßvater baute uns eine wunderbare Eckarbeitsbank, die dankbar als „Labor“ angenommen wurde. Das Handarbeitsregal wurde wieder aufgefüllt und etwas neu gestaltet und erfuhr sofort eine Renaissance an Aktivität.

Diese Entwicklung beschreibt einen Zeitraum von im wesentlichen vielleicht acht Wochen. Acht Wochen in denen sich neben allen anderen Aktivitäten viel um die Entdeckung von Technik im Kindergarten gedreht hat.

Auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen habe ich mir Gedanken über den Wert fertiger Elektro- und Experimentierkästen gemacht. Meine Beobachtungen verdichten sich zu der Vermutung, daß Kinder genaugenommen keine Chance haben mit solchen Kästen wirklich frei zu experimentieren. Sowohl die Ausstattung als auch die Anleitungen erlauben nur ein Reproduzieren der vorgeschlagenen Versuche. Ich erinnere mich, daß es mir als Kind damit nicht anders gegangen ist: Reproduktion von Experimenten oder der Dinge, die ich ohnehin bereits wußte; meine Entdeckungen und Erfahrungen habe ich anderswo gemacht.

Karsten Czimmek, Juni 1999

Pikler Pädagogik

"Die wahre Genialität ist die existenzielle Genialität. Ich wage zu behaupten: Nahezu alles Wissen, das nicht unmittelbares Wissen über uns selbst ist, ist umsonst"
(Imre Kertész)


Audio: Charlotte Selver liest
"Der Anfang vom Anfang"
(MP3 Dowload, ca 32 MB) ...


Emmi Pikler Buch

Czimmek, Anna
Emmi Pikler - Mehr als eine Kinderärztin
28,00 €
P. Zeitler Verlag
ISBN 978-3-931428-20-4

"Emmi Pikler (1902-1984) war eine ungewöhnliche, ungarische Kinderärztin. Sie beschäftigte sich intensiv mit den Bedingungen für eine gesunde und freie Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern. Dies war untypisch für Kinderärzte. Ihre Fähigkeit zur genauen Beobachtung führte zu neuen Erkenntnissen über die Kompetenz und Bedürfnisse des Kindes - Grundlage für eine bis heute aktuelle Pädagogik.

Mit inhaltlichen Beiträgen von Mária Vincze, Anna Tardos und Myriam David sowie Éva Kálló.

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