Emmi Pikler Wege der Entfaltung e.V.

Die Wurzeln unseres Tuns gehen zurück auf die Anfänge des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa.

„Es war Charlotte, die sich um 1950 herum für den Ausdruck Sensory Awareness entschied. In den mehr als 35 Jahren, die seitdem vergangen sind, hat sich dieser Begriff in den Wachstumszentren der USA verbreitet, allerdings oft ohne mit ihrem Namen in Verbindung gebracht zu werden, geschweige denn die Tiefe ihres Anliegens zu vermitteln.“ (Charles V.W. Brooks, Erleben durch die Sinne )

Als Charlotte Selver 1938 nach New York emigrierte, trug ihre Arbeit noch keinen Namen. Elsa Gindler und Heinrich Jacoby, bei denen sie in Deutschland in den 20er und 30er Jahren gelernt hatte, waren entschieden in ihrer Ablehnung eines Namens, einer festen Bezeichnung, einer Schule oder fachlicher Veröffentlichungen. Dies alles berge die Gefahr einer Erstarrung, meinten sie.

Ihre Arbeit ist Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden. Gindler kam aus der Gymnastik, Jacoby von der Musik her. Es war eine Zeit des Aufbruchs. Die überlieferten sozialen Werte des vorherigen Jahrhunderts wurden umgekrempelt. Entwicklungen, z.B. in der Wissenschaft, Medizin, Psychologie und Pädagogik, stellten das gängige Weltbild auf den Kopf.

Gindler und Jacoby begegneten sich Mitte der zwanziger Jahre im Rahmen der Bewegung um die Reformpädagogik. Jacoby brachte Menschen, die nie musiziert oder gezeichnet hatten, in kürzester Zeit dazu, sich musikalisch und künstlerisch ausdrücken zu können. Er vertrat die Überzeugung, dass jeder Mensch mit diesen Fähigkeiten auf die Welt käme. Ob sie sich entfalten oder nicht, sei nur eine Frage der Möglichkeiten, die ihm von frühester Kindheit an geboten werden.

Gindler erforschte die körperliche Bewegung, nicht mittels gymnastischer Übungen, sondern anhand der Gegebenheiten des täglichen Lebens. Sie arbeitete mit den Gesetzmäßigkeiten der Schwerkraft, dem festen Boden unter den Füßen, der Struktur und Funktionsweise des menschlichen Organismus und mit der menschlichen Natur.

Ihnen gemeinsam war das Interesse daran, das Ursprüngliche wieder walten zu lassen. Sich keinen ästhetischen, methodischen oder sonstigen äußeren Normen unterzuordnen, die den Menschen bis hin zu gesundheitlichen Schäden beeinträchtigen können. Es waren schwierige Zeiten und die Arbeit, die die beiden taten, war bald nicht mehr nur essentiell sondern existentiell. Immer häufiger ging es um außerordentliche physische und seelische Belastungen oder Krankheiten, um das Funktionieren, das Arbeiten und das Überleben, (die Berichte von Schülern im Buch „Erinnerungen an Elsa Gindler“ dokumentieren dies).

Es ist und bleibt schwierig, diese Arbeit jemandem zu beschreiben, der sie nicht erlebt hat. Warum? Wahrscheinlich weil sie so einfach ist. Man „macht ja nichts Besonderes“: In einer Gruppenstunde sind Menschen zu sehen, die auf Hockern sitzen, auf dem Boden liegen, stehen oder durch den Raum gehen. Manchmal sind Werkzeuge wie Sandsäcke, Bälle, Steine oder zwei Meter lange Bambusstäbe mit im Spiel. Bei längerer Beobachtung sieht man, dass die Leute mit ruhigen Versuchen beschäftigt sind, wie den Kopf zu drehen, einen Arm zu heben, Schritte zu machen oder ähnliches. Man spürt die konzentrierte Atmosphäre in der Gruppe und die Abwesenheit von Zeitdruck.

Diese Herangehensweise bleibt immer so nahe an der körperlich spürbaren Realität wie es uns möglich ist. Die physikalischen Gegebenheiten der Natur geben uns erkennbare Antworten auf unsere Bewegungen, sie berichtigen uns, wenn wir uns zu weit vom Gleichgewicht entfernen. Solche Rückmeldungen sagen nicht nur, dass etwas nicht stimmt, sie führen einen auch in die Richtung der nötigen Änderungen, um wieder ins Gleichgewicht zu gelangen.

Die allgemeine Gültigkeit dieser Vorgänge macht unsere Arbeit, Sensory Awareness, unabhängig von einem bestimmten Zeitgeist oder von Moden. Insofern könnten wir sagen, dass Gindler und Jacoby Recht hatten, ihre Arbeit nicht fixieren zu wollen: sie hat die Jahrzehnte überlebt. Ihr Einfluss ist heute auf unauffällige Weise in vielen Bereichen vorhanden, wobei ihre Inhalte oft ohne Hinweise auf deren Ursprünge aufgenommen und angewendet werden (wie z.B. bei der behutsamen Frühgymnastik im Fernsehen oder dem Gymnastikball am Arbeitsplatz) – und das ist vielleicht auch gut so.

Peggy Zeitler

Sidebar Sensory Awareness

"'Die Beine der Ente sind kurz. Versuchten wir sie zu strecken, würde sie Schmerz empfinden. Die Beine des Kranichs sind lang. Versuchten wir sie zu kürzen, würde er Leid empfinden. Daher haben wir weder zu amputieren, was von Natur lang ist, noch zu strecken, was von Natur kurz ist.' (Chuang Tse). Ihnen gemeinsam ist, daß jeder gleichermaßen glücklich ist, wenn er seine natürlichen Fähigkeiten voll und frei ausüben kann."
(Fung Yu-Lan, A Short History of Chinese Philosophy)

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