Emmi Pikler Wege der Entfaltung e.V.

... hatten wir, wie jedes Jahr im August, früh am Morgen Sensory Awareness Stunden. Wir verbrachten sie damit, die Augen zu schließen und uns auf die Geräusche um uns herum einzulassen. Es war ein ungewöhnlich warmer August, alle Fenster standen offen, und die Geräusche im Raum mischten sich mit den Lauten aus dem Garten und den angrenzenden Häusern.

Doch sich ganz auf das Hören einzulassen, ist einfacher gesagt als getan: Auch wenn die Augen geschlossen sind, braucht es Zeit, bis die Abhängigkeit vom Sehen nachlässt. Der Organismus wartet beharrlich auf visuelle Informationen und fängt erst langsam an sich umzustellen. Doch dann macht sich besonders im Kopf Bewegung bemerkbar. Wo sonst – außer bei Kopfschmerzen – nicht viel zu fühlen ist, breiten sich in alle Richtungen spürbare Regungen aus. Die Geräusche werden allmählich prominenter, und das Sehen tritt in den Hintergrund. Geschieht dies, braucht man mit den Geräuschen nur mitzugehen.

In so einem Moment wird alles eins mit dem Gehörten: mit dem Rauschen der Blätter in den Bäumen, mit dem Krach der Müllmänner im Hof. Eine Empfindung führt zur nächsten, das gedämpfte Summen vorbeifahrender Autos und ein Flugzeug am Himmel bilden den Hintergrund für das Vogelgezwitscher. Es wird zu einem Orchester, das immer weiter wächst und improvisiert. Ein Meer von Klängen und Wahrnehmungen tut sich auf.

Doch dann driftet man ab – was man zunächst gar nicht merkt –, bis etwas Merkwürdiges geschieht: Als ob sie soeben nicht existiert hätten, tauchen die Geräusche wieder auf. Man hört sie „wieder“ und muss daraus schließen, dass die Wahrnehmung zwischendurch eine Pause eingelegt hat.

In diesem einfachen Versuch erlebten wir damals, wie selbstverständlich wir aufhören können zu hören, obwohl sich die Ohren im Gegensatz zu den Augen gar nicht schließen lassen. Offenbar ist es möglich, mit den Ohren zu empfangen ohne zu hören bzw. nur das zu hören, was einem bewusst wird. Oder hören wir auch, wenn uns das, was wir über die Ohren aufnehmen, nicht ins Bewusstsein dringt?

Wir sind gewohnt, alle unsere Sinne auf diese Weise ein- und auszuschalten. Einen kurzen Moment lang bekommen wir alles mit, dann gleiten wir wieder, ohne uns dessen gewahr zu werden, in eine Gewohnheit ab oder folgen irgendwelchen Gedanken.

In der Arbeit mit Charlotte Selver spielte das „ganz da zu sein“ eine zentrale Rolle: ob für einen Stein, den wir in den Händen hielten, für den Boden unter den Füßen oder für einen Menschen, den wir gerade berührten – in dieser Frage war sie unnachgiebig. Jahrelang war mir ihr Anspruch „ganz dabei zu sein“ eine Selbstverständlichkeit. Natürlich war Charlotte nicht die Urheberin dieser Idee – sie ist so alt, wie die Menschheit selbst und in jedem System der Ethik oder Religion zu finden. Trotzdem war es immer wieder ein einmaliges Erlebnis, mit Charlotte daran zu arbeiten. Ich erinnere mich nicht, dass sich je der leiseste Widerstand bei mir regte, wenn sie Stunde für Stunde, tagein, tagaus fragte: „Sind Sie da für das, was Sie tun, für den Menschen, den Sie berühren, für das, was in Ihnen geschehen möchte?“ Erst nach vielen Jahren begann sich Unbehagen bemerkbar zu machen. Ich glaube, dass ich in dem Maße, in dem ich mich zunehmend auf meine eigene Erfahrung verlassen konnte, zu erkennen anfing, wann ich wirklich präsent war und wann nicht. Auch Vorstellungen und Zwänge, heimlich gehegte Träume und Sehnsüchte, die über Jahrzehnte entstanden waren, wurden spürbar – recht kindliche Ansprüche, wie alles gut und richtig zu machen und weniger kindliche Ansprüche, wie immer präsent zu sein. Aber wie leicht können sich solche Ansprüche in das Gegenteil kehren und die Bereitschaft töten, die uns ungeniert und unmittelbar auf den Augenblick reagieren lässt!

Heute bin ich bescheidener geworden und behaupte nur, dass die gelegentlichen Momente, in denen eine vollere Anwesenheit möglich ist, uns anders im Leben stehen und anders den Menschen begegnen lassen, mit denen wir zusammen leben. Die Dimensionen des Hörens weiten den eingeengten Blick.

Peggy Zeitler, Juli 2006

Pikler

Hans, 3 Jahre, 4 Monate; Vorbild der Ente ist eine Erwachsenezeichnung. Der Mann mit Krone ist frei auf der Ente gesetzt, daneben ein Haus.